lebewesen

 

später wollen alle noch rausgehen, sagen sie.
ich höre gar nicht hin, ich spanne meine nacht einfach über den bildschirm,
die getränkelieferung hat verspätung und mir fehlt das bargeld, der abstand.
keiner geht gleich los, alle stehen und warten, weiter hinten, fast versteckt,
ein kleines weißes reh. in seiner stillen art steht es allein und blickt aus großen
augen in die nacht. einer ganz vorn zündet sich eine zigarette an. kurz
flackert eine ahnung von gestohlenen tagen über meine leinwand. meine
aufmerksamkeit gilt dem reh, dass sich kaum mehr bewegt. ich frage mit
blicken über die anderen hinweg, schließe mich lieber den tieren an, für ein
einziges mal will ich wieder wald spielen, federnder waldboden bin ich, bemoost.

 

die anderen überlegen sich ein ziel, auf das sie zulaufen, pfandflaschen in den
händen. meine zukunft ist kleiner. für mich heißt es lange in der dunkelheit
stehen, zufall und reh, und ein spalier aus bewegten schatten. könnten bäume
sein, könnten wesen aus dem märchen sein, sind bloß die anderen, die an ort
und stelle und trotzdem immer weiter gehen. als ich. als ich klein war, war ich
im wald, lag im feuchten moos, sprach mit den igeln und biss in fliegenpilze.
beeren aß ich, steckte mir federn ins haar. immer ohne die anderen, die es
damals noch nicht gab. rauchzeichen von offenen feuern lockten erst eins,
dann mehrere wildtiere an. seither teilt sich mein wesen in ein zweierlei.
die anderen wissen nichts über mich. ich verfolge sie nicht, sie überleben mich.

 

 

 

 

aus der geschützten zone

 

du bist doch reich

reich und ein bewohner der

westlichen hemisphäre unter

beschuss stehen die anderen zeig

dankbarkeit und doch

falle ich um wenn es laut knallt

ein martinshorn oder eine

autoalarmanlage machen mich

weich in den beinen wie gelee

im kopf zeigen sich bilder

biegen sich von sonnenglut ge-

schmolzene straßen unbrauchbare

listen von namen aller art

nummerierungen alphabetisierungen

rundum sich drehende winzige sender

in meinem inneren folgen befehlen aus

unbekannten gebieten weit im süden

meines lebensraums

erstreckt sich minimiert sich auf stuhlbetttisch

meines lebenstraums

orientieren kann ich mich nur

noch mit verbundenen augen

intuition! rufe ich laut im gegenzug

sitzt der wagenlenker lächelt

abgehoben – think positive!

(no way) langsam weiß ich

wie ich nicht gehe

wo ich falsch liege und warum

mein abschirmsystem im daueralarm

tut tut tut tut mir nicht gut tut mir

leid ich falle weit hinter der absperrzone

liegt mein überreifes stets verneintes Über-Ich.

 

 

 

kipppunkt

 

mir ist allein und dieser tage
frag ich mich und immer noch
so weit
die lange pause reicht in dunkle
gänge fehlen stoffe hinken zähe
mir die beine raucht es aus der
abzugshaube fallen dünste in
mein bett
spiegelbild erkaltet haarausfall
und knapp die flügel
riegeln ab die räume ab die
meisten orte die in meinem
leben wachsen fallen unter
zahlen ach die zahlen kurven
rundgedrehte phrasen richten
ab und zu die häuser die mir
helfen durch zum licht
spukt
ein einzig wert sperrt ein kreis-
verkehr rigoroser größen ohne
selbst zu denken kehren alle unter
deck tauchen alle ein ins
dunkle bad
der angst werfen leichthin sätze
vor dich hin spießen wahnsinn
overlocked und unbewertet
fällt anheim fällt mein stern
mein langes haar fängt an
zu zittern fliehe in die streu-
obstwiese reiße mir die worte aus
dem mund

 

 

GAIA

Nichts wird jemals gesagt.
Eine Stummheit liegt am Rande der Felder
im Wald hausen Stämme
wachsen aus stimmloser Rinde
alle Äste zurück.
 

Darunter entflieht das neue Gras
dem unterirdischen Raunen
dem geblähten Leib der uralten
Erdmutter. Mit blassen Wangen
betreibt sie ihre Gärtnerei
der Stimmgabeln. Bislang
gibt sie keine frei.

 

Was sie gebiert,
ist der Dünger für
all die redlichen Ratlosen.
Was wirklich wächst
ist eine Farce. Eine nie gekannte
Farblosigkeit, ein Abgesang
im selbstgenähten Blütenkleid.

 

Kunst ist Zauberei aus dem
Stammhirn der Zeit. Aus dem
kochenden Erdkern dringt eine
Stimme. Ja, Mutter, ich höre dich.
Ja, ich will.

 

 

Die Sanfte

Ich bin die Sanfte,
die sich zu helfen weiß,
die Späne mit dem großen Hobel zieht,
die den roten Klatschmohn pflückt, als
Widerstand gegen die mit dem älteren Recht.
 

Ich bin die Lilie,
duftend und sanft, die zwischen rot & grün
sich abzuheben weiß. Ich bin der Widerstand
im Angesicht derer, die sich einen Weg
durch die verborgenen Orte bahnen.
 

Weiß bin ich und sanft.

 

 

Komm!

In der Nacht verlasse ich mein
hiesiges Leben & werde
Detektivin, verstecke mich hinter
Spiegeltüren und fotografiere unter
finsteren doppelten Böden.


Ich beuge das Recht, ich darf das
in der Nacht. Ich spanne ein Netz
unter Sternen & stehe abseits der
selbsternannten apokalyptischen
Reiter, ein ewiger Zweiter.


Wenn das Dunkel sich neigt, wird
Unkraut zu Veilchen und ich
verfolge sich balgende Welpen,
eile durch hohle Gassen, filme
die Wirklichkeit hinter Fassaden.


Die Waffe, die ich mit mir führe,
ist geliehen, meine Kamera Gewähr.
Mein Auftraggeber ist eine alte
Weise, die mit einem Kind an der
Hand Lieder der Wahrheit singt.

 

 

Gewachsen


Sonderbar klein sein, morgens,
und am Abend wieder groß
gewachsen in Ringen, an Bäume
gelehnt, baumrindenumfangen
und die Lider sanft geschlossen.


Begleitet vom Pochen im Kopf
ein Wachstumsschub und
das Klopfen eines Spechts.
Vom Verlieren verloren, die Federn


zersaust, aus meinen Haaren hat
einer Vogelnester gebaut. Die alte
Eiche nimmt einen Bienenschwarm auf.
Eine Zeder ragt, unentschieden


zwischen Nadel und Laub, ihre
lederne Rinde streift meine Haut.
Ich höre wie ihr hölzernes Herz klopft.
Ein Stamm wie gedrechselt und


das Grünzeug der Zweige himmelan.
Schon die zartesten sind geübt
im Bergen der Vögel, die Blätter
behutsam wie eine gewölbte Hand.


Ohne zu sehen wachse ich mit,
eine Blindgängerin des Lichts
ziellos im Dienst alter Wälder,
meine Haut, eine Borke aus geronnener Zeit.

 

 

Ich ziele

Ich schwebe &
verliere meinetwegen den Kopf & treibe
den Wind an, dass er über die Wasser jagt,
die Hirnareale meines Minimalismus streift &
meinetwegen: Reich mir die Harfe oder die Standpauke &
ich spiel dir nach dem Mund.


Ich töne &
reduziere die Worte, verschlucke die Hälfte der Melodie,
hungrig, durstig, schlürfe, schürfe nach flüssigem Blau,
denn auf Gelb folgt meinetwegen Blau, aus dem Meer
gewonnen, dessen Rinnsale sich vom Wind getrieben
über meine Tonhände ergießen.


Ich ziele &
treffe. Es ist die kleinste Zielscheibe der Welt.
Sie ist nicht rund, sondern rot und züngelnd. Von dort
verlaufen alle Bahnen. Strom heisst Leben & die Verbündeten
sind Rauschgoldzwerge auf Rollschuhen oder auf Kufen. Je schneller
sie laufen, umso schneller pulsiert dieser Feuerknoten,
links, in Höhe eines menschlichen Herzens.

 

 

venezia

 

ich reise fern von mir in eine
venezianischblaue zeit. über brücken
fließen fische, angestaunt von
wesen aus geschichte.
masken und gesichter, fische


fließen hin zur quelle
über wasserstraßen springen frösche nah
am laub der letzten jahre kürzen sie
minuten zu momenten,
uhren zeigen nachts nach zwei.


boote fahren unter brücken
jahreszahlen steinarkaden zwischen
überwölbten gängen schielt der wind
eiskalt, um paläste schlingern gondeln
auf die toteninsel zu.

 

 

Der Mantel


Ich hülle mich ein ins Blau mit
Spuren von Nacht, die Wärme
vernäht, geborgen Quadrat für
Quadrat, gesteppte Zeit im kalten
Rahmen der arktischen Weite,
Flocken am Fließband, der
Wind rollt Schneebälle auf.


In der Fabrik am Meerrand
fülle ich Dose um Dose mit
kleinen Körpern. Funkelnde
Fischschuppen streifen meine
Augen, Dose um Dose, gesalzen
versiegelt & weiter auf ihrer
Reise in die Küchen der Welt.


Mein Nachhauseweg führt mich
im Boot übers Wasser, leuchtendes
Glimmen über dem Fjord. Wenn
mein blauer Mantel die Welt wäre,
wäre ich ihr glühender Kern.